Einleitung

Warum dieses Buch und für wen?

Zwei Ergotherapeuten, ein Gedanke. In unserer täglichen Arbeit als Diagnostiker, in der Ergotherapie, insbesondere im Bereich der visuellen Wahrnehmung, sind wir immer wieder an einen Punkt gestoßen: CVI aber was dann?

Gemeinsam mit Dr. Roger Weis haben wir den 3-Digit-Score entwickelt. Ein Instrument zur vallidierten, strukturierten Erfassung von visuellen Wahrnehmungsauffälligkeiten. Damit ist ein wichtiger diagnostischer Schritt gelungen. Doch in vielen Gesprächen mit Eltern, Pädagoginnen und Kolleginnen wurde schnell deutlich: Die Diagnose allein reicht nicht.

Die großen Fragen beginnen erst danach!

Was bedeutet CVI konkret für das Kind?
Wie sieht die Welt mit CVI aus, im wahrsten Sinne des Wortes?
Wie können wir Patienten im Alltag unterstützen?
Wo finden Eltern verlässliche Informationen?
Wie kann Therapie aussehen, individuell, praktisch, alltagstauglich?

Wir haben festgestellt: Es fehlt nicht nur an Bewusstsein für CVI in der Gesellschaft und im pädagogischen Alltag, es fehlt auch an praktischen, verständlichen Informationen und therapeutischen Angeboten.

Aus diesem Mangel ist ein gemeinsamer Gedanke entstanden und schließlich dieses Buch. Wir möchten aufklären, sensibilisieren, awerness schaffen und Wege aufzeigen, wie man junge aber auch erwachsene Patienten mit CVI besser verstehen und begleiten kann. Nicht abstrakt und theoretisch, sondern konkret, interdisziplinär und lebensnah. Denn hinter jeder Diagnose steht ein Mensch, mit seinen eigenen Stärken, Bedürfnissen und einer ganz besonderen Sicht auf die Welt.

Hier setzt auch die Ergotherapie an: Sie unterstützt Menschen mit CVI dabei, ihren Alltag selbstbestimmt zu gestalten, Handlungskompetenzen zu entwickeln und Teilhabe zu erleben. Im Mittelpunkt stehen die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse jedes Menschen. Gemeinsam mit den Betroffenen und ihrem Umfeld werden praktische Lösungen gefunden, die im Alltag für mehr Lebensqualität, Orientierung und Selbstvertrauen, beitragen sollen.

Unser Wunsch ist es, CVI sichtbar zu machen, fachlich, gesellschaftlich und persönlich. Für mehr Verständnis, für bessere Hilfen, für eine hellere Zukunft. Denn wer CVI erkennt, kann Betroffenen wirklich helfen und ihre Welt ein Stück mehr verstehen.

Merlin Pfeiffer & Joseph Corazolla

Was ist CVI und warum ist es so wichtig, sie früh zu erkennen?

Viele Menschen glauben, dass gutes Sehen allein von den Augen abhängt. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Sehen ist ein äußerst komplexer Vorgang: Die Augen nehmen Lichtreize, Farben, Bewegungen und Formen auf. Erst im Gehirn entsteht daraus ein sinnvolles Bild unserer Umwelt. Dort werden die aufgenommenen Informationen verarbeitet, interpretiert, mit bekannten Mustern abgeglichen und in Handlungen oder Reaktionen übersetzt.

Wenn genau diese Verarbeitung gestört ist, obwohl die Augen selbst gesund sind, spricht man von einer zerebralen visuellen Wahrnehmungsverarbeitungsstörung, kurz CVI (Cerebral Visual Impairment). CVI ist keine Augenerkrankung, sondern eine neurologisch bedingte Sehbeeinträchtigung. Das Gehirn kann die visuelle Information, die über die Augen ins Sehsystem gelangt, nicht richtig verarbeiten oder interpretieren. Dies hat weitreichenden Folgen für das tägliche Leben der betroffenen Menschen.

Wie äußert sich CVI im Alltag von Kindern und Erwachsenen?
Menschen mit CVI sehen oft auf eine Art und Weise, die für Außenstehende schwer nachvollziehbar ist. Ein Kind kann zum Beispiel in einem ruhigen, gut beleuchteten Raum einen Gegenstand erkennen, denselben Gegenstand in einer unübersichtlichen oder reizüberfluteten Umgebung nicht wahrnehmen. Manche erkennen Gesichter nicht gut, obwohl sie Blickkontakt halten. Andere haben Mühe, sich im Raum zu orientieren, können schwer zwischen Vorder- und Hintergrund unterscheiden, übersehen Objekte die sich bewegen oder in Gruppen auftreten.

Im Alltag kann das dazu führen, dass z.B.bBetroffene Kinder als ungeschickt, unaufmerksam oder gar lernschwach wahrgenommen werden. Sie wirken, als würden sie sich nicht konzentrieren, hätten motorische Probleme oder würden absichtlich “nicht richtig hinschauen”. Dabei liegt die Ursache oft nicht im Verhalten oder in mangelnder Intelligenz, sondern in einer fundamentalen Schwierigkeit des Gehirns, das Gesehene sinnvoll einzuordnen.

Die Ursachen für CVI sind vielfältig. Häufig tritt die Störung bei Kindern auf, die zu früh geboren wurden oder rund um die Geburt Komplikationen wie Sauerstoffmangel oder Hirnblutungen erlitten haben. Auch angeborene oder genetisch bedingte Hirnfehlbildungen, Stoffwechselerkrankungen, Infektionen während der Schwangerschaft oder schwere epileptische Erkrankungen können CVI zur Folge haben. Oft ist CVI Teil eines komplexen Krankheitsbildes mit weiteren Entwicklungsbesonderheiten. Manchmal bleibt die CVI aber auch lange das einzige auffällige Symptom.

Ein weiteres Merkmal bei der visuellen Wahrnehmungsschwäche zeigt sich bei jedem anders. Es gibt keine „typischen“ Anzeichen, die auf jedes Kind oder Erwachsenen zutreffen. Manche sehen unscharf oder verlangsamt, andere haben Schwierigkeiten mit Bewegung im Blickfeld, wieder andere können sich nicht lange auf visuelle Reize konzentrieren oder ermüden sehr schnell bei Sehaufgaben. Diese individuelle Ausprägung macht die Diagnose besonders herausfordernd.

Die visuelle Wahrnehmung dient der Aufnahme und Verarbeitung optischer Reize, wie etwa Farben, Hell/Dunkel, Kontraste, Formen, Raumlage (oben/unten) und Bewegungen. Bekannte Muster oder etwa Formen werden bei der Wahrnehmung mit Erinnerungen abgeglichen und entsprechend eingeordnet. Das Sehen ist auch eng mit der Motorik verbunden (Auge-Hand-Koordination). Spiele und Spielsachen, welche die visuelle Wahrnehmung effektiv fördern, sind häufig schon zuhause vorhanden. Häufig müssen keine speziellen Spiele gekauft oder neu erlernt werden, sondern es reicht aus, wenn man diese Spiele gezielt und vermehrt einsetzt. Achten Sie immer darauf die Spiele entsprechend der Fähigkeiten auszuwählen bzw. anzupassen. Denn das wichtigste ist, dass die Spiele und Aufgaben mit Spaß verbunden werden, denn nur so wird erfolgreich gelernt. Werden sie ruhig kreativ!  

…fachlich gesagt:

Cerebral Visual Impairment“ (Zerebrale visuelle Wahrnehmungsverarbeitungsstörung, kurz CVI), ist eine neurologische Erkrankung, bei der das Gehirn trotz gesunder Augenanatomie und intaktem Sehnerv (Nervus opticus) Schwierigkeiten hat, visuelle Informationen zu verarbeiten. Sie stellt für Kinder und Erwachsene eine besondere Herausforderung dar. In der Folge führt dies zu Schwierigkeiten der „Interpretation“ dessen, was das Auge sieht.

Hauptursachen für eine CVI sind häufig pränataler oder perinataler Natur. Frühgeborene mit einer postpartalen Schädigung (Khetpal & Donahue, 2007; Bingöl-Kızıltunç et al., 2022), insbesondere Kinder mit einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie (HIE) (Huo et al., 1999; Chang & Borchert, 2021; Khetpal & Donahue, 2007; Bingöl-Kızıltunç et al., 2022), zeigen ein signifikant erhöhtes Risiko. Die Ausprägung einer CVI variiert aufgrund von Unterschieden in Zeitpunkt, Ausmaß und Ätiologie der zerebralen Schädigung.

Bei einer CVI können die niederen visuellen Funktionen “LOVF” (low level funktion), z. B. Sehschärfe, Visus, Objekt- und Gesichtserkennung betroffen sein. Bei tiefgreifenden funktionseinschränkenden Auswirkungen auf die visuelle Verarbeitung und Wahrnehmung, die zusammen als höhere visuelle Funktionsdefizite “HOVF” (high level funktion) bezeichnet werden, ist eine umfassende Diagnostik erforderlich.

Die Augen empfangen das Licht und wandeln es in elektrische Signale um. Der Sehnerv leitet die Informationen an das Gehirn weiter, wo sie das Chiasma opticum passieren. Teilweise kreuzen die Bahnen sich und laufen über die Tractus opticus bis zum Corpus geniculatum laterale im Thalamus. In der primären Sehrinde (V1) des Okzipitallappens erfolgt die grundlegende Verarbeitung von visuellen Informationen, bevor diese an die sekundären und tertiären visuellen Areale (V2, V3) weiter gegeben werden. Die Verarbeitung komplexer visueller Merkmale wie Farben, Formen und Bewegungen geschieht in V4, V5. Dabei wird die weitere Verarbeitung im Gehirn in zwei unterschiedliche „Ströme“ unterschieden.

Der „Ventral Stream“ verläuft vom Okzipital- zum Temporallappen und ist für die Erkennung von Objekten und Gesichtern zuständig. Bei einer Störung kommt es zu Defiziten in der Objektkonstanz, in der Unterscheidung relevanter, objektcharakterisierender Merkmale sowie im visuellen Erkennen von Objekten (Objektagnosie), Gesichtern (Prosopagnosie) oder Personen (Dutton, 2003).

Der „Dorsal Stream“ verläuft vom Okzipital- zum Parietallappen und dient der räumlichen Wahrnehmung und Koordination von Bewegungen. Bei Störungen treten Probleme in der visuellen Lokalisation, zweidimensionaler Diskriminierung, Linienrichtung / -länge, Organisation von Blickbewegungen beim „Abtasten“ der Umgebung und / oder visumotorische Einschränkungen, z. B. von Greifbewegungen nach einem Objekt auf. Auch sind Defizite der visuellen Raumwahrnehmung und der visuellen Orientierung möglich. (Zihl und Priglinger, 2002, S53 ff)

Bei einer Störung im parietalen (dorsal Stream / visuell-räumliche Wahrnehmung) oder im temporalen Netzwerk (ventral Stream / Objekt- und Gesichtswahrnehmung) kommt es meist auch zu Schwierigkeiten des Informationsaustausches zwischen den beiden neuronalen Strukturen. Die Folge ist eine Einschränkung der höheren visuellen Wahrnehmungsverarbeitungs-leistungen, wie z. B. Figur-Grund Wahrnehmung, Formkonstanz oder Gestaltschließen (Dutton, 2003; Federici et al., 2023).

Da die visuelle Aufmerksamkeit und die visuelle Wahrnehmung nicht zu trennen sind, führt eine CVI immer zu einer atypischen visuellen Aufmerksamkeit. Dies betrifft die selektive und die globale visuelle Aufmerksamkeit. Die Folgen sind daran erkennbar, dass die Patienten an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen leiden (Zihl und Priglinger 2002, S 56ff). Bei einer zerebralen Sehstörung kann es zu Veränderungen der Sakkaden kommen, die in Folge entweder verzögert, hypo- oder hypermetrisch auftreten. Ferner treten Störungen der Blickfolgebewegung auf, die ihrerseits Probleme in der Bewegungswahrnehmung mit sich bringen.

Zusammenfassend führt eine zerebrale Sehstörung zu einem gestörten Blickbewegungsmuster, das heute mit Hilfe eines sogenannten „Eye-Trackers“ beobachtet werden kann (Zihl und Priglinger, 2002, S. 62). So ist es möglich, im Eye-Tracking Fixationsprobleme zu detektieren. Dabei sind bereits kleinste horizontale oder rotierende Nystagmen darstellbar.

Die Störung der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung kann Folgen für viele andere kindliche Entwicklungsbereiche haben. Kinder mit CVI zeigen zum Teil vollkommen unterschiedliche klinische Manifestationen. Dabei ist es wichtig, die visuellen Defizite so früh wie möglich zu diagnostizieren. Heute wissen wir, dass das Sehen  für die weitere kognitive, emotionale, soziale, sprachliche, motorische Entwicklung und den sogenannten „activities of daily living“ (ADL) des Kindes von großer Bedeutung ist (Tamis-LeMonda et al., 1996; Zihl & Dutton, 2016; Sonksen & Dale, 2002; Tadić et al., 2010; Ganesh et al., 2013; Dutton & Bax, 2010; Käsmann-Kellner & Seitz, 2012). Eine Einschränkung des funktionellen Sehens hat somit erhebliche Auswirkungen auf eine Vielzahl von Entwicklungsbereichen und die Lebensqualität der Betroffenen (Chadha & Subramanian, 2011; Mitry et al., 2016).

Das frühzeitige Erkennen von Auffälligkeiten ist notwendig, um negative Folgen für Kinder mit Sehbeeinträchtigung durch individuelle Therapien zu minimieren. Eine späte oder unzureichende Diagnostik kann den gesamten Lebensweg negativ beeinflussen (Käsmann-Kellner & Seitz (2012)) und mit gravierenden Fehleinschätzungen (wie z.B. Intelligenzminderung, Autismus, ADHS), zu Schul- oder Schulteilleistungsstörungen (insbesondere LRS / Dyskalkulie) und zu einer schweren Belastung der Psyche und des Selbstwertgefühls der Heranwachsenden führen (Chokron et al. 2020). Wir gehen davon aus, dass die CVI eine der Hauptursachen für Sehbehinderungen bei Kindern in entwickelten und schnell entwickelnden Ländern ist. (Huo et al., 1999; Good et al., 1994; Grönqvist et al., 2001; Kong et al., 2012; Pehere et al., 2018).

Viele Eltern wenden sich bei vermeintlichen Sehstörungen zunächst an eine Augenarztpraxis. Häufig sind allerdings die anamnestischen Informationen nicht eindeutig zuzuordnen. Orthoptist:innen sind speziell für die Untersuchung von Kindern ausgebildet und bieten eine wertvolle Unterstützung. Die heute selten gewordene objektive Refraktionsbestimmung bei weiter Pupille und Funduskontrolle gehört zur CVI Diagnostik.

Eine multidisziplinäre Beurteilung durch ein Team aus Neuropädiater:innen, Orthoptist:innen, (Neuro-) Psycholog:innen und Ergotherapeut:innen ist unerlässlich, um festzustellen, ob ein Kind eine CVI hat (Ortibus et al., 2019; Boonstra et al., 2022). Zudem sind Informationen von Eltern oder Betreuenden über die täglich zu beobachtenden visuellen Probleme für die Beurteilung grundlegend. Unsere sozialpädiatrische Sehambulanz (SoPSA) untersucht seit 2020 Kinder auf das Vorliegen einer CVI. Dabei ließ sich feststellen, dass Patienten im Schulalter, insbesondere in der Adoleszenz, eine schwere Störung des Selbstwertgefühls, des Selbstbewusstseins und der „positiven Zukunftsaussicht“ zeigten. Wir konnten beobachten, dass allein durch die Diagnosestellung und durch die eingeleiteten individuellen Anpassungen an das jeweilige Umfeld eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität eintrat. Dies war die Grundlage für die Entwicklung einer validen Diagnostik der CVI im Säuglings-, und Kindesalter.

Ein adaptives multiprofessionelles Diagnostiktool konnten wir im Mai 2024 auf dem internationalen Kongress “European Academy of Childhood Disability” (EACD) in Brügge vorstellen. Der sogenannte „3-Digit-Score“ besteht aus drei Domänen und umfasst einen ergotherapeutischen, neuropsychologischen und medizinisch / orthoptischen Teil. Diese Bereiche werden in verschiedenen Diagnostikverfahren ausgewertet und bieten ein ganzheitliches Bild auf die visuelle Wahrnehmung des / der Patient:in.

Aufgrund der bekannten wechselseitigen Beziehung zu anderen Entwicklungsbereichen haben wir uns entschlossen, die klinischen Untersuchungen nicht nur auf die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung, sondern auch auf die sprachliche, motorische, emotionale Entwicklung sowie die Aufmerksamkeitsentwicklung auszuweiten. Die Kinder werden in Verlaufskontrollen über das Säuglings-, Kleinkind- und Schulalter hinweg bis zum Alter von 15 Jahren begleitet.

Die bisherige Literatur über CVI bei Kindern zeigt erstaunlich niedrige Fallzahlen in den Publikationen. Ein fast vollständiges Fehlen von Verlaufsuntersuchungen und die Prüfung der Validität in der Therapie fehlen. Um einen von uns vermuteten Zusammenhang von sozio- ökonomischem Status, visueller Wahrnehmungsverarbeitung und Lebensqualität im Adoleszentenalter zu belegen, wollen wir die Ergebnisse der ohnehin durchgeführten Untersuchungen in einer Datenbank systematisch erfassen und auswerten. Daraus sollen Publikationen entstehen, die die medizinische Betreuung diagnostisch und therapeutisch verbessern.

Die Therapie von CVI kann verschiedene Ansätze umfassen. Beispielsweise eine visuelle Rehabilitation durch Therapeuten zur Förderung der visuellen Fähigkeiten mit z. B. Dob-Plus/Pro, Klabauter, Dimensioner oder einer Sehfrühförderung. Auch helfen Verbesserungen des Umfeldes und Kompensationsstrategien durch Hilfsmittel, wie etwa die Anpassung von Lichtbedingungen, die Erhöhung des Kontrasts und eine generelle Vergrößerung unter Zuhilfenahme von Sehhilfen. Zudem finden optische und elektronische Unterstützungen mit Tablets gekoppelt mit Sprachein- / ausgabe, sowie Lupen oder beleuchtete Zeichenplatten Anwendung. Eine Ergotherapie ist unterstützend bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und der Verbesserung der Auge-Hand-Koordination, Figur-Grund Wahrnehmung, Gestaltschließen, Formkonstanz sowie Lage im Raum unersetzlich.

Eine frühzeitige Erkennung durch multidisziplinäre Diagnostik und Betreuung mit individualisierter Abstimmung führt zu einer erhöhten Lebensqualität der Betroffenen. (Artikel: Ärzteblatt RLP 12/2024)

v.l.n.r. J. Corazolla, Dr. med. R. Weis, Dr. med K. von Engelhardt, Dr. med. F. Kowalzik, O. Diop, M. Pfeiffer, A. Dortmann, P. Mülders; M. Mager, J. Stumpf fehlt auf dem Bild

Epidemiologie

Williams et al. (2021) und Pilling et al. (2022) haben herrausgefunden, dass etwa drei Prozent der Kinder an Regelschulen von Störungen in höherer Sehfunktionen betroffen sind. Dies bedeute, nahezu ein Kind pro Schulklasse habe visuelle Wahrnehmungsverarbeitungsprobleme. 2010 identifizierten Cavezian et al. zerebrale visuelle Störungen (CVI) bei fünf Prozent der Allgemeinbevölkerung. Kinder mit maginalen Symptomen oder aggravierender CVI werden häufig nicht erkannt oder fehldiagnostiziert.

In der aktuellen Fachliteratur finden sich verschiedene Begriffe, die jedoch weitgehend dieselbe Symptomatik beschreiben. Am häufigsten wird der Begriff CVI verwendet, was für cerebral visual impairment beziehungsweise zerebrale visuelle Wahrnehmungssverarbeitungs- oder Wahrnehmungsstörung steht.
Zusätzlich hat sich das Akronym VVWSVisuelle Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung etabliert.

Der Begriff neurovisuelle Störung wiederum wird überwiegend im Zusammenhang mit Erwachsenen verwendet, die nach einer Hirnläsion Beeinträchtigungen des visuellen Systems entwickelt haben und zuvor eine normale zerebrale visuelle Wahrnehmungsentwicklung aufwiesen (Kerkhoff, 2006).

Obwohl verschiedene Berufsgruppen unterschiedliche Bezeichnungen bevorzugen, beziehen sich die Begriffe CVI und VVWS inhaltlich auf die gleiche Problematik und beschreiben dieselben visuellen Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen.

Warum wird CVI so oft übersehen und was braucht es für eine gute Diagnostik?

Trotz der weitreichenden Auswirkungen wird CVI nach wie vor häufig übersehen oder zu spät erkannt. Eltern berichten oft davon, dass sie früh ein Gefühl hatten, „etwas stimme nicht“, dass ihr Kind anders sehe, anders reagiere, sich ungewöhnlich verhalte. Doch in der augenärztlichen Untersuchung erhalten sie häufig keine befriedigende Erklärung. Der Grund: CVI lässt sich nicht mit einem klassischen Sehtest oder einer Brillenverordnung erfassen. Die Sehschärfe kann völlig normal sein und doch bestehen massive Einschränkungen im Alltag.

Eine verlässliche Diagnose erfordert daher eine interdisziplinäre Herangehensweise. Fachleute aus Medizin, Augenheilkunde, Neuropädiatrie, Orthoptik, Ergotherapie, Psychologie und Pädagogik müssen gemeinsam hinschauen und beurteilen, wie das Kind sieht und wie es das Gesehene versteht. Nur so kann ein vollständiges Bild entstehen, das die Grundlage für eine passende Unterstützung bildet.

Warum ist eine frühe Erkennung so entscheidend? In unserer sozialpädiatrischen Sehambulanz (SoPSA) in Mainz erleben wir täglich, wie lebensverändernd eine frühe und klare Diagnose sein kann. Das Gehirn von Kindern ist besonders anpassungsfähig. Diese sogenannte neuronale Plastizität erlaubt es, neue Wege der Verarbeitung zu lernen, Strategien zu entwickeln und vorhandene Stärken zu nutzen. Je früher CVI erkannt wird, desto gezielter können Therapie, Förderung und Anpassungen im Alltag greifen.

Dabei geht es nicht nur um „besseres Sehen“, sondern auch um ganz zentrale Lebensbereiche. Lernen, Bewegung, Selbstständigkeit, Kommunikation, Selbstbewusstsein, all das ist eng mit der visuellen Wahrnehmung verknüpft. Wenn man endlich verstanden wird und sich nicht mehr ständig anpassen muss, steigt die Lebensqualität erheblich. Dann kann sich Potenzial entfalten, in seinem eigenen Tempo, mit seinen eigenen Mitteln.

Symptome einer CVI

Symptome einer visuellen Wahrnehmungsverarbeitungsstörung können individuell variieren.

Sie betreffen Beispielweise:

  • die Einschätzung des Raumes (zum Beispiel Treppen, Wege, Distanzen),

  • die Wahrnehmung von Objekten, Gesichtern oder der Mimik anderer Personen, was dann zu Verhaltensauffälligkeiten, Ängstlichkeit oder sozialem Rückzug führen kann)

  • das Finden und Unterscheiden von Gegenständen oder Buchstaben, die etwas verdeckt sind oder ganz nah an anderen Gegenständen liegen

  • Schwierigkeiten beim Lesen oder Rechnen,

  • Probleme bei der Einschätzung von Geschwindigkeiten (zum Beispiel im Straßenverkehr).

!!!!!!!!Hier alle Symptome noch einsortieren!!!!!!

Klassifikation der Sehfunktionen

Die elementaren Sehfunktionen bilden die Grundlage des Sehens. Sie setzen eine störungsfreie Aufnahme visueller Reize vom Auge bis zum Okzipitallappen sowie eine präzise Steuerung der Augenbewegungen im Mittelhirn und Hirnstamm voraus. In der augenärztlichen Praxis endet die Untersuchung häufig mit der Betrachtung des Sehnervs am Augenhintergrund, während die orthoptische Diagnostik überwiegend die basalen Sehfunktionen und die Okulomotorik beurteilt. Neuroophthalmologie und Neuroorthoptik konzentrieren sich hingegen auf Gesichtsfeldausfälle und Motilitätsstörungen. Liegt die Ursache einer Sehbeeinträchtigung jedoch nicht im Auge, im Sehnerv oder in den motorischen Zentren, sondern in höheren visuellen Arealen des Okzipital-, Parietal-, Temporal- oder Frontallappens, entsteht häufig eine diagnostische Lücke.

—-Hier muss der ventral Stream und dorsal Stream rein—- darauf alle funktionen Beschreiben—–

Ventral und Dorsal Stream

was ist das und wie funktioniert das?

Low vision Function (Ventral Stream)

Zu den elementaren Sehfunktionen gehören:

  • Visus / Sehschärfe: Auflösungsvermögen der Netzhaut

  • Akkommodation (Naheinstellung): Anpassungsfähigkeit der Augenlinse für scharfes Sehen in der Nähe

  • Perimetrie / Gesichtsfeld: Gesamtheit des wahrnehmbaren Sehfeldes bei stabiler Fixation

  • Kontrastsehen: Fähigkeit, Helligkeitsunterschiede zu erkennen

  • Farbsehen: Erkennen und Unterscheiden verschiedener Farben

  • Adaptation: Anpassung an unterschiedliche Lichtverhältnisse

  • Binokularsehen / Stereopsis: Fusion der Bilder beider Augen zu einem dreidimensionalen Gesamteindruck

  • Okulomotorik: Augenbewegungen in alle Blickrichtungen, stabile Fixation, Sakkaden, Folgebewegungen, Konvergenz, VOR und OKN

  • Dynamisches Sehen / Bewegungssehen: Erkennen von Bewegungen und Reaktion auf bewegte Objekte

High vision Function, Dorsal Stream

Die zerebrale visuelle Verarbeitung umfasst deutlich mehr als diese basalen Leistungen. Sie beinhaltet unter anderem:

  • das Erkennen von Formen und Objekten,

  • die Figur- und Objekthintergrund-Differenzierung,

  • das Erkennen und Wiedererkennen von Gesichtern und Mimik,

  • die Verarbeitung räumlicher Informationen,

  • sowie die visuelle Umsetzung im motorischen und konstruktiven Bereich, etwa Visuomotorik, Visuografomotorik und Visuokonstruktion.

Während Erwachsene nach Hirnverletzungen ihre visuellen Einschränkungen oft gut benennen können, ist dies bei Kindern mit angeborenen Beeinträchtigungen nicht möglich, da ihnen kein Vergleich zu „normalem“ Sehen zur Verfügung steht.

Daher sollten Kinder gezielt auf cerebral bedingte Sehstörungen untersuchen, werden. besonders bei Hirnschäden, sowie bei auffälligen alltagsrelevanten Beobachtungen von Eltern oder pädagogischen Fachkräften, die auf visuelle Schwierigkeiten hinweisen.

Komplexen Sehfunktionen (Dorsal Stream)

Die komplexen Sehfunktionen umfassen alle Prozesse, die über die reine Aufnahme visueller Reize hinausgehen und deren Weiterverarbeitung bis zur bewussten, detailgetreuen Wahrnehmung ermöglichen. Für die Interpretation eines visuellen Eindrucks und für das zielgerichtete Handeln in einer Umgebung wird nahezu das gesamte Gehirn benötigt. Eine zentrale Rolle spielt dabei der parieto-okzipito-temporale Übergangsbereich, insbesondere in der rechten Hemisphäre, sowie frontale und subkortikale Strukturen, die für die visuelle Aufmerksamkeit verantwortlich sind.

Der okzipito-temporale, sogenannte ventrale Pfad ist vor allem für die Objekterkennung zuständig. Dabei verarbeitet die rechte Hemisphäre Gesichter, Mimik, Orientierung und räumlich-topografische Informationen, während die linke Hemisphäre stärker mit der Erkennung von Formen, Objekten, Buchstaben und Zahlen befasst ist (Dutton, 2013). Ergänzend dazu ermöglicht der okzipito-parietale, dorsale Pfad die räumliche Wahrnehmung und damit die korrekte Einordnung von Objekten in ihrer Umgebung. Das Frontalhirn schließlich übernimmt übergeordnete Aufgaben wie die Planung, Organisation und Steuerung von Handlungen und ist somit essenziell für exekutive Funktionen im visuellen Kontext. Die Teilbereiche der komplexen Sehfunktion sind:

Visuelle Aufmerksamkeit, Suche, Exploration

(unten schon genauer beschrieben) Formkonstanz

Raum-Lage Wahrnehmung

(genau beschreiben)

Figur-Grund-Wahrnehmung

(genau beschreiben)

Gestaltschließen

(genau beschreiben)

Formkonstanz

(genau beschreiben)

Objekterkennung und Objektkonstanz

(genau beschreiben)

Visuelles Gedächtnis

(genau beschreiben)

Räumlich perzeptive Wahrnehmung

(genau beschreiben)

Räumlich kognitive Wahrnehmung

(genau beschreiben)

Räumlich konstruktive Wahrnehmung

(genau beschreiben)

Topografische Wahrnehmung

also die Fähigkeit, sich in bekannten und unbekannten Umgebungen zu orientieren. Schwierigkeiten in diesem Bereich äußern sich häufig darin, dass Kinder selbst in vertrauter Umgebung Wege verlieren, Probleme haben, sich auf Landkarten zu orientieren, den Schulweg oder Klassenraum nicht finden oder sich Wege generell nicht merken können. Beeinträchtigungen der topografischen Wahrnehmung wirken sich stark auf die Selbstständigkeit und das Sicherheitsgefühl im Alltag aus.

Sequentielles Gedächtnis

(genau beschreiben)

Visugrafomotorik

Visuomotorik, insbesondere die Hand-Hand- und Hand-Auge-Koordination, beschreibt die Fähigkeit, Handbewegungen präzise auf visuelle Informationen abzustimmen, wie es beim Wassereinschänken, Fangen, beim Schreiben, Handschrift, Zeichnen oder Basteln erforderlich ist.

Lesefähigkeit

setzt ein genaues Zusammenspiel zwischen visueller Reizverarbeitung und Visuomotorik voraus. Für das Lesen sind eine stabile Fixation sowie zielgenaue Sakkaden notwendig, wobei kleine Sakkaden für das Lesen innerhalb einer Zeile und größere Sakkaden für den Zeilenwechsel benötigt werden (Hyvärinen & Jacob, 2011). Darüber hinaus spielen eine ausreichende Sehschärfe, eine mühelose Akkommodation, gegebenenfalls unterstützt durch eine geeignete Nahkorrektur, das Fehlen von Crowding und zentralen Skotomen sowie ein gut funktionierendes visuelles Gedächtnis und intakte kognitive Fähigkeiten eine wesentliche Rolle. Auffälligkeiten können sich in Form von Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, eingeschränkter visueller Aufmerksamkeit, Problemen beim Wiedererkennen vertrauter Personen oder Freunde, Orientierungsproblemen im Raum, ungenauer Platzeinteilung im Heft oder allgemeiner Ungeschicklichkeit äußern.

Crowding

Ein wichtiger diagnostischer Aspekt ist das sogenannte Crowding bzw. die Trennschwierigkeit, bei der aufgrund retinaler oder zerebraler Kontureninteraktionen eng benachbarte Sehzeichen ineinander verschwimmen. Dieses Phänomen tritt monokular bei Amblyopie und binokular bei CVI auf. Kinder mit altersentsprechender Normsehleistung zeigen bis zu einem Alter von etwa acht Jahren deutlich ausgeprägtere Crowding-Effekte als Erwachsene (Atkinson et al., 1986). Zur Messung dient die Crowding-Ratio, das Verhältnis von Einzeloptotypen-Visus zu Reihenoptotypen-Visus. Ein Wert von zwei oder höher gilt als Nachweis für ein bestehendes Crowding, beispielsweise bei einem EO-V von 0,8 und einem RO-V von 0,4 (Van der Zee, 2017).

NEPSY Bereiche ergänzen?????

Die Diagnostik für CVI mit dem vallidierten 3-Digit-Score in der sozialpädiatrischen Sehambulanz (SoPSA) des kinderneurologischen Zentrum in Mainz

Orthoptik in der SoPSA

In der Orthoptik der SoPSA passiert die Analyse der organischen und physikalischen Bedingungen des Auges und des ersten Abschnitts der Sehbahn, dazu gehören Sehschärfenbestimmungen in der Ferne und Nähe (einäugig und/oder beidäugig) mit Einzel- oder Reihenzeichen. Relevant sind hierbei auch die Kontrastempfindlichkeit und das Farbsehen. Das beidäugige Sehen, das Gesichtsfeld und die Beweglichkeit und Stellung der Augen zueinander werden getestet. 

Wir schauen nach der Exaktheit und Ausführung der Augenbewegungen und sind einem Augenzittern mit möglichen Kopfzwangshaltungen auf der Spur. Beurteilt werden außerdem das Fixations- und Kommunikationsberhalten.

Bei kleineren Kindern wird auf Grund ihrer reflexhaften Reaktionen und ihrem visuellen Interesse eine Einschätzung der Sehfähigkeit gegeben.
Unter Umständen kann durch optimierte Brillenversorgung (z. B. Nahteil), Vergrößerung, Prismenversorgung und anderem „Setting“ (Licht, Sitzposition) eine Verbesserung der Schwierigkeiten erreicht werden. Auch Übungen können sinnvoll sein, die im Rahmen einer Augenbeteiligung bei Schlaganfall üblicherweise angewendet werden.

Ergotherapie in der SoPSA

Während der ergotherapeutischen Untersuchung in der SoPSA werden verschiedene Untersuchungen mithilfe des Seh-Screenings mit dem PROVIKIT® Lea® Testverfahren, des TVPS oder Frostig Entwicklungstests der visuellen Wahrnehmung sowie des Eye-Trackings durchgeführt. Diese geben Aufschluss darüber welche Bereiche der visuellen Wahrnehmung beeinträchtigt sind.

Durch die Vergrößerung der Spielmaterialien, eine Verstärkung des Kontrasts bei den Spielmaterialien und eine ausreichende Beleuchtung zu Hause und im Kindergarten/ Schule (1000 lx) können sich förderlich auf die visuelle Wahrnehmung auswirken.

Zusätzlich wird der Beginn einer visuellen Therapie mit der App „dob pro“ oder dem Therapieprogramm “Klabauter” empfohlen.

Neuropsychologie in der SoPSA

Mit einem neuropsychologischen Testverfahren, dem Nepsy II, untersuchen wir unterschiedliche Funktionsbereiche des Gehirns. Neben den visuell-räumlichen Fähigkeiten untersuchen wir auch die Aufmerksamkeit und Konzentration, die Sprache und das Gedächtnis. Auf diese Weise können wir herausfinden, wo die Stärken und Schwächen des Kindes liegen. So können wir besser einordnen, ob es neben den Problemen in der visuell-räumlichen Verarbeitung noch andere Auffälligkeiten gibt, ob es sich um ein übergeordnetes Verarbeitungsproblem handelt, oder die visuelle Verarbeitung im Speziellen betroffen ist.

Multiprofessionelle Diagnostik und Ablauf der validierten SOPSA 3-Digit-Score

Bei einervisuellen Verarbeitungsstörung (CVI) liegt das Problem wie schon beschrieben nicht im Auge selbst, sondern in der Weiterverarbeitung der visuellen Informationen im Gehirn. Das bedeutet: Die Augen können ein Bild aufnehmen, aber das Gehirn verarbeitet dieses Bild nicht so, wie es sollte. Dadurch entstehen Schwierigkeiten beim Sehen, Erkennen und Verstehen von Dingen im Alltag.

Um eine CVI richtig zu erkennen, sollten alle Berufgruppen multiprofessionell arbeiten. Die validierte SOPSA-Diagnostik sollte mit einem Team aus verschiedenen Fachbereichen (Orthoptik, Ergotherapie, Neurologie, Neuropsychologie) besetzt sien und durchgeführt werden. So kann der Patient ganzheitlich betrachtet werden. Die Untersuchung sollte an zwei Tagen ablaufen um den Patienten nicht zu überlasten.

Vor der Diagnostik ist ein Augenarzttermin sinnvoll und wünschenswert. Dort wird geprüft, ob das Auge selbst oder der Sehnerv geschädigt sind. Erst wenn klar ist, dass diese Strukturen weitgehend in Ordnung sind, kann weiter untersucht werden, ob das Problem in der visuellen Verarbeitung im Gehirn liegt.

Erster Diagnostiktag: Sehen und Wahrnehmung

Orthoptische Untersuchung (Sehen mit den Augen) Zuerst untersucht die Orthoptistin das funktionelle Sehen, also wie die Augen arbeiten. Dabei wird zum Beispiel geschaut nach:

  • Sehschärfe: Wie scharf kann das Kind sehen?

  • Kontrastsehen: Kann es Dinge noch erkennen, wenn sie wenig Unterschied zum Hintergrund haben?

  • Farbensehen: Werden Farben normal unterschieden?

  • Gesichtsfeld: Ist das gesamte Sichtfeld nutzbar oder fehlen Bereiche?

  • Strabismus (Schielen): Arbeiten beide Augen zusammen oder weichen sie ab?

  • Sakkaden: Wie gut sind die schnellen Augenbewegungen von einem Punkt zum anderen?

  • Crowding: Kann ein einzelner Buchstabe erkannt werden, auch wenn er zwischen vielen anderen steht?

  • Nystagmus: Gibt es unwillkürliche Augenbewegungen?

Diese Untersuchungen helfen, die „Basisfunktionen“ des Sehens zu abzuklären.

Ergotherapie (Sehen mit dem Gehirn)

Anschließend geht es darum, wie das Gehirn die gesehenen Informationen verarbeitet. Wir schauen uns verschiedene Bereiche der visuellen Wahrnehmung an:

  • Lage im Raum: Kann man einschätzen, wo etwas steht?

  • Figur-Grund-Wahrnehmung: Kann man einen Gegenstand von seinem Hintergrund unterscheiden?

  • Gestaltschließen: Kann man ein unvollständiges Bild trotzdem erkennen?

  • Formkonstanz: Wird eine Form erkannt, auch wenn sie in einer anderen Größe oder Lage erscheint?

  • Sequenzielles Gedächtnis: Kann man sich eine Abfolge von Bildern oder Formen merken?

  • Visuelle Diskrimination: Lassen sich ähnliche Dinge voneinander unterscheiden?

  • Räumliche Beziehungen: Kann man die Position von Dingen zueinander erkennen?

  • Visuelles Gedächtnis und Vollendung: Kann man sich Bilder merken oder fehlende Teile ergänzen?

Hierbei empfiehlt sich der TVPS, FEW 2/ JE und der ProviKid LEA. Weiter sollte ein Eye-Tracking durchgeführt werden. Das ist ein Gerät, das die Augenbewegungen ganz genau misst. So kann erkannt werden, wie schnell die Augen springen, wie genau sie fixieren und wie gleichmäßig sie einer Bewegung folgen können.

Standardisierte Tests:

Vallidierte und qualitative Testverfahren sind ein Muss zur guten Diagnostik, zum Beispiel:

  • ProVikit: Testet die visuelle Wahrnehmung spielerisch mit altersgerechten Aufgaben.

  • TVPS (Test of Visual-Perceptual Skills): Überprüft verschiedene Teilbereiche des Sehens, unabhängig von der motorischen Leistung oder der motorikreduzierte Teil des FEW-2 / JE, Je nach Alter zur Erfassung visueller Teilleistungen.

  • CVIT 3–6 oder L-POST: speziell für Kinder mit CVI entwickelt.

  • Attention-Shift-Paradigma: Misst, wie schnell das Kind die Aufmerksamkeit von einem Punkt zum anderen lenken kann.

Arzt

Am Ende des ersten Tages fasst der Neurologe die Ergebnisse zusammen, fragt Risikodiagnosen zu möglichen Gehirnveränderungen und bespricht erste Einschätzungen mit dem Team und den Familien.

Zweiter Diagnostiktag: Neuropsychologische Untersuchung

Am zweiten Tag führen wir die NEPSY-II durch, eine umfangreiche Testung für Kinder, die viele verschiedene Bereiche abdeckt. Besonders wichtig für uns sind die visuellen Untertests:

  • Dorsaler Strom (Wo-System): z. B. Pfeile vergleichen oder geometrische Aufgaben lösen – das zeigt, wie gut räumliches Sehen funktioniert.

  • Ventraler Strom (Was-System): z. B. Puzzleaufgaben, Wege finden, Gesichter und Emotionen erkennen – das zeigt, wie gut Formen, Objekte und Menschen erkannt werden.

  • Visuokonstruktive Aufgaben wie das Nachbauen von Figuren mit Klötzen.

Dazu kommen auch nicht-visuelle Tests, die uns helfen, das Gesamtbild zu verstehen:

  • Auditive Aufmerksamkeit – zuhören und reagieren.

  • Response Set – flexibel zwischen Aufgaben wechseln.

  • Wortproduktion und Narratives Gedächtnis – Sprache und Merkfähigkeit.

Auswertung mit dem 3-Digit-Score

Am Ende werden alle Ergebnisse im Team zusammengeführt und nach dem 3-Digit-Score ausgewertet. Gibt es nachweisbare Veränderungen im Gehirn oder Vorerkrankenungen die CVI erklären können? (z. B. durch EEG, MRT oder neurologische Vorgeschichte) Sind die organischen und physikalischen Bedingungen des Auges und des ersten Abschnitts der Sehbahn funktionsfähig? Zeigen die Tests Auffälligkeiten in den visuellen Funktionen. Hat das Kind dadurch Einschränkungen im Alltag, in Schule, Freizeit oder Kommunikation?

Eine CVI-Diagnose wird nur gestellt, wenn mindestens zwei dieser drei Bereiche (Orthoptik und Medizin, Ergotherapie, Neuropsycholoigie) auffällig sind. Gleichzeitig zeigt der Score auch, wie schwer die CVI ausgeprägt ist.

Die genaue Diagnostik ist die Grundlage für eine gezielte Förderung. Denn je nachdem, welche Schwierigkeiten bestehen, ob beim räumlichen Sehen, beim Erkennen von Gesichtern oder beim visuellen Gedächtnis können unterschiedliche Therapie- und Unterstützungsmaßnahmen geplant werden. Eine hohe Ausprägung im Score bedeutet, dass eine intensive Förderung notwendig ist, zum Beispiel durch visuelle Rehabilitation, Ergotherapie, Hilfsmittelberatung oder schulische Unterstützung.

Auf diese Weise wird im sichergestellt, dass Eltern und Kinder nicht nur eine Diagnose erhalten, sondern auch eine klare Orientierung, welche Hilfen sinnvoll sind und wie man das Sehen im Alltag bestmöglich unterstützen kann.

3-Digit-Score kommt hier rein!

Abb: ProViKit Lea©; TVPS: https://assessments.academictherapy.com/i/test-of-visual-perceptual-skills-4th-edition-tvps-4; CVIT 3-6: https://psytests.be/clinicians/test-centrum/cvi-t.php; L-Post: https://psytests.be/clinicians/test-centrum/l-post.php; Eye-Tracking: https://www.tobii.com/de/products/eye-trackers/screen-based/tobii-pro-spectrum; https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0142505; Attention Shift Paradigm: L. Kulke et al.; NEPSY-II: (A Developmental Neuropsychological Assessment) Marit Korkman, Ph.D.,Ursula Kirk, Ph.D.,Sally Kemp, Ph.D.;

Aufmerksamkeit und unsere Idee eines Top Down/ Bottom Up Modell

Was ist den visuelle Wahrnehmung und worin unterscheidet sich globale, lokale und selektive visuelle Aufmerksamkeit? Damit wir uns in der Fülle an visuellen Informationen zurechtfinden, spielt die visuelle Aufmerksamkeit eine entscheidende Rolle. Sie sorgt dafür, dass wir nicht alles gleichzeitig wahrnehmen, sondern dass wir unseren Blick bewusst oder meist ganz automatisch auf das richten, was im Moment von Bedeutung ist. Innerhalb dieses Aufmerksamkeitsprozesses unterscheidet man verschiedene Formen, die jedoch eng miteinander verbunden sind.

Globale visuelle Aufmerksamkeit,

ermöglicht es, eine ganze Situation auf einen Blick zu erfassen. Wenn wir einen Raum betreten, nehmen wir spontan die allgemeine Anordnung wahr.  Wo stehen Möbel, wo befinden sich Menschen, wo gibt es Hindernisse? Auch beim Betrachten eines Bildes oder beim Überqueren einer Straße brauchen wir zunächst einen Überblick, um die wesentlichen Elemente zu erkennen und einschätzen zu können, was überhaupt los ist. Bei Kindern, deren globale Aufmerksamkeit eingeschränkt ist, zerfällt dieser Gesamteindruck oft in einzelne Fragmente. Sie sehen Details, aber nicht das gesamte Bild, verlieren leicht den Überblick und haben Schwierigkeiten, sich in komplexen Umgebungen zu orientieren. Infolgedessen fehlt ihnen in reizstarken Situationen der Überblick. Im Verkehr, beim Puzzle zusammensetzen oder beim Blick auf ein überfülltes Bilderbuch.

Lokale visuelle Aufmerksamkeit

Im Gegensatz dazu richtet sich die lokale visuelle Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Detail. Sie erlaubt es, aus einer Vielzahl von Informationen ein einzelnes Merkmal herauszufiltern, beispielsweise ein bekanntes Gesicht in einer Menschenmenge oder einen bestimmten Buchstaben im Text. Diese Fähigkeit ist wichtig für alle Tätigkeiten, bei denen Präzision gefragt ist. Fällt es Kindern schwer, ihre lokale Aufmerksamkeit zu bündeln, sehen sie oft zu viel gleichzeitig. Alles tritt gleich stark in den Vordergrund, und es gelingt ihnen kaum, das Wesentliche von Nebensächlichkeiten zu trennen. Dies kann es schwierig machen, ihre Eltern auf dem Schulhof oder ihr Lieblingsspielzeug in einer Spielzeugkiste zu finden.

Selektive visuelle Aufmerksamkeit

Die selektive visuelle Aufmerksamkeit verbindet diese beiden Formen miteinander. Sie ist der Mechanismus, der entscheidet, worauf wir unseren Blick richten und was wir ignorieren. Während die globale und die lokale Aufmerksamkeit beschreiben, wie wir sehen (entweder den Überblick oder das Detail), beschreibt die selektive Aufmerksamkeit, was wir sehen. Sie steuert, welche Informationen wir überhaupt beachten. Sie sorgt dafür, dass wir uns bei Bedarf auf ein wichtiges Detail konzentrieren, ohne von der Umgebung abgelenkt zu werden, oder den Blick wieder öffnen, um die Gesamtsituation zu erfassen. Dieser flexible Wechsel zwischen Detailfokus und Überblick geschieht normalerweise ganz selbstverständlich und in Sekundenschnelle.

Kombinierte Aufmerksamkeit

Die meisten Menschen können mühelos zwischen globaler und lokaler visueller selektiver Aufmerksamkeit wechseln. Bei Kindern mit CVI geht dieser Prozess oft im alltäglichen Leben schief. Wenn dieser Wechsel jedoch nicht zuverlässig funktioniert, wie es bei Kindern mit CVI häufig der Fall ist, wird das Verstehen visueller Informationen schnell mühsam und anstrengend. Dann werden entweder zu viele Informationen gleichzeitig aufgenommen oder nur einzelne Fragmente wahrgenommen, die nicht zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfinden. Das erklärt viele Schwierigkeiten im Alltag, etwa beim Suchen von Gegenständen, beim Lesen, beim Orientieren oder beim Erkennen von Situationen. Die visuelle Wahrnehmung ist also ein komplexes Zusammenspiel zwischen Augen und Gehirn, und erst das fein abgestimmte Zusammenspiel der verschiedenen Aufmerksamkeitsformen ermöglicht es uns, die Welt sicher und sinnvoll zu erfassen.

Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsverarbeitung mit dem Top Down und Bottom Up Modell erklärt.

(ZAWV: Zentrale Auditive WahrnehmungsVerarbeitung; ZVWV: Zentrale Visuelle WahrnehmungsVerarbeitung; ZTWV: Zentrale Taktile WahrnehmungsVerarbeitung; Exekutiv Funktion: geistigen Steuerungs- und Kontrollprozesse)

Mit der Grafik möchten wir zeigen, (ein von uns als Team SoPSA entwickelten Modell) verdeutlichen, wie eng die verschiedenen Ebenen unserer Wahrnehmung miteinander verknüpft sind und wie Probleme sowohl von unten nach oben, quer, als auch von oben nach unten wirken können. Wenn man sich das Modell von unten nach oben anschaut, beginnt alles bei den Sinnesorganen. 

Hören, Sehen und Fühlen. Diese Sinne liefern die ersten, noch ungefilterten Informationen aus unserer Umwelt. Zunächst handelt es sich um reine Reize. Licht, Geräusche oder Berührungen, die über Augen, Ohren und Haut aufgenommen werden. Erst danach gelangen sie über die Nervenbahnen in das Gehirn und werden dort weiterverarbeitet.

In dieser zweiten Stufe sprechen wir von der zentralen Wahrnehmungsverarbeitung. Sie umfasst die zentrale auditive (ZAWV), visuelle (ZVWN) und taktile (ZTWN) Wahrnehmung. Dabei geht es nicht mehr darum, ob das Ohr hört oder das Auge sieht, sondern darum, wie das Gehirn das Gehörte, Gesehene oder Gefühlte sortiert, interpretiert und sinnvoll zuordnet. Das ist wichtig zu unterscheiden! Wie wir schon wissen, eine Wahrnehmungsverarbeitungsstörung entsteht nicht im Sinnesorgan, sondern im Gehirn also dort, wo die Reize Bedeutung bekommen. z.B. Die Augen können gesund sein, während die Verarbeitung im Gehirn beeinträchtigt ist. Genau deshalb wird CVI auch als Störung der zentralen visuellen Verarbeitung definiert. 

Wenn nun die Sinnesorgane geschädigt sind, wie es auf Netzhaut-, Nerven- oder Hörschneckenebene vorkommen kann, entstehen bereits dort Fehler in der Reizweiterleitung. Das Gehirn erhält ein unvollständiges oder verzerrtes Signal und muss dieses mühsam ausgleichen. Das kostet viel viel Energie. Gleichzeitig können aber auch die Sinnesorgane völlig intakt sein, während die Verarbeitung im Gehirn selbst Schwierigkeiten bereitet. Bedenkt man das die visuelle Wahrnehmung in der Verarbeitung 80% der Gesamtleistung des Gehirns im Alltag nutzt. In solchen Fällen sprechen wir von den genannten Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen. Kinder oder Erwachsene erleben dies zum Beispiel, wenn sie Orte, Gesichter oder Gegenstände schlecht erkennen, obwohl die Augen gesund sind (visuell), wenn sie Sprache schlecht herausfiltern können, obwohl sie normal hören (auditiv), oder wenn Berührungen falsch oder übermäßig stark wahrgenommen werden (taktil).

Das Gehirn ist in solchen Situationen ständig damit beschäftigt, Fehler zu korrigieren oder Lücken zu füllen. Das führt unweigerlich dazu, dass weniger Kapazität für die Aufmerksamkeit übrig bleibt. Aufmerksamkeit ist jedoch eine begrenzte Ressource. Wenn ein großer Teil bereits dafür verbraucht wird, unklare oder widersprüchliche Reize zu sortieren, steht weniger zur Verfügung für konzentriertes Arbeiten, strukturierte Handlungen oder das Bewältigen alltäglicher Aufgaben. Die Betroffenen zeigen dann häufig Aufmerksamkeitsprobleme, die auf den ersten Blick an ADHS oder andere neurodiverse Muster erinnern können. Die Ursache liegt jedoch nicht in einer Aufmerksamkeitsstörung im engeren Sinne, sondern in der Überlastung des Systems durch fehlerhafte oder überfordernde Wahrnehmungsverarbeitung.

Diese nachlassende Aufmerksamkeit wirkt sich wiederum auf viele höhere Denk- und Steuerungsprozesse aus. Motivation, emotionale Stabilität, Gedächtnis und exekutive Funktionen.  Also all jene Fähigkeiten, die wir brauchen, um unseren Alltag zu organisieren, Entscheidungen zu treffen oder Handlungen zu planen, sind eng an die Aufmerksamkeit gebunden. Wenn diese durch die ständige Kompensation von Wahrnehmungsfehlern bereits erschöpft ist, fehlt dem Gehirn die Energie, um diese weiteren Bereiche stabil zu halten. Das führt zu Vergesslichkeit, Schwierigkeiten bei der Organisation des Alltags, Problemen am Arbeitsplatz oder in sozialen Situationen. Viele Betroffene berichten von emotionaler Erschöpfung, depressiver Stimmung, sinkendem Selbstwertgefühl oder erläutern den Überblick über ihr Leben zu verlieren. Häufig wird dies als „verpeilt sein“ oder „keine Ordnung halten können“ von Eltern beschrieben, kann aber seinen Ursprung viel früher haben, nämlich in den überlasteten Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozessen.

Während dieser Verlauf beschreibt, wie Probleme von unten nach oben entstehen, (also von den Sinneswahrnehmungen hin zu den höheren Denk- und Gefühlsbereichen) kann der Prozess auch umgekehrt verlaufen. Das zeigt das Modell auf der anderen Seite: den Top-down-Weg.

Ein gutes Beispiel dafür ist eine schwere Depression. In diesem Fall beginnt die Veränderung nicht bei der Wahrnehmung, sondern auf der emotionalen Ebene. Depressive Menschen (Emotion) haben oft eine niedrige Motivation, fühlen sich antriebslos und berichten von einer allgemeinen inneren Schwere. Dadurch bricht der Antrieb weg, alltägliche Aufgaben zu erledigen (exekutiv Funktionen), und viele beschreiben eine zunehmende Schusseligkeit oder Vergesslichkeit (Gedächtnis). Die Aufmerksamkeit lässt schneller nach, Konzentration wird anstrengend, und Gespräche oder Arbeits- Alltagssituationen überfordern rasch.

Bemerkenswert ist, dass sich dadurch auch die Wahrnehmungsverarbeitung selbst verändert. Viele Betroffene schildern, dass sie einen „Tunnelblick“ haben, dass Farben blasser wirken oder alles grau erscheint (ZVWN). Geräusche werden als besonders störend empfunden oder nur einzelne Personen können herausgefiltert werden, während Hintergrundgeräusche unangenehm lähmend wirken (ZAWN). Manche berichten sogar von veränderten Körperempfindungen wie Kribbeln, Taubheitsgefühlen oder Überempfindlichkeiten (ZTWV). Auch hier arbeiten die Wahrnehmungssysteme nicht mehr wie gewohnt, allerdings nicht, weil die Reize falsch ankommen, sondern weil die höheren emotionalen und kognitiven Systeme die Verarbeitung maßgeblich beeinflussen.

Dieses Zusammenspiel zeigt, dass unsere Wahrnehmung nie nur in eine Richtung funktioniert. Es gibt kein „reines“ Bottom-up oder „reines“ Top-down. Vielmehr stehen alle Ebenen ständig miteinander in Kontakt. Je nachdem, wo die Störung beginnt wirkt sie sich auf das gesamte System aus. Umweltfaktoren, Stress, Stimmung, körperliche Erkrankungen oder Überforderung können das Bild zusätzlich verändern. Wahrnehmung ist also nicht nur ein einfacher Vorgang zwischen Sinnesorgan und Gehirn, sondern ein komplexes Netzwerk, das sensibel auf Belastungen reagiert und weitreichende Folgen für Aufmerksamkeit, Denken, Gefühle und Verhalten haben kann.

____(Noch schreiben: Wieso die Aufmerksamkeit im Mittelpunkt steht und die Wichtigkeit untermahlen!)___

Visuelle Suche

Um visuelle selektive Aufmerksamkeit zu messen, werden oft visuelle Suchaufgaben (visuelle Suche) angewendet. z. B. wird ein Blatt Papier gezeigt, das mit verschiedenen Figuren gefüllt ist. Unter ihnen sind Zielfiguren. Die Kinder müssen diese Ziele so schnell wie möglich finden und durchstreichen. Der Neuropsychologe misst dann die Genauigkeit: Wie viele Ziele das Kind findet und die Geschwindigkeit: Wie schnell sie die Aufgabe erledigen. Eine der wichtigsten Möglichkeiten, wie Kinder die Welt erkunden können, ist die visuelle Suche.

Durch die Nutzung ihrer Wahrnehmung lernen sie Formen, Farben und Buchstaben kennen, bewegen sich sicher durch ihre Umgebung und erkennen Mimik bei anderen. Wenn ein Kind eine Seheinschränkung hat, kann dies das Lernen, die Bewegung und die soziale Interaktion beeinträchtigen. Deshalb ist es wichtig, solche Sehstörungen frühzeitig zu erkennen, damit diese Kinder die richtige Unterstützung erhalten können.

Bei CVI gibt es keine primäre Schädigung der Augen, sondern eine Schädigung oder eine atypische Entwicklung des Gehirns. CVI kann vor, während oder nach der Geburt auftreten. Wie schon ausführlich beschrieben haben Kinder, die z.B. zu früh geboren werden, ein erhöhtes Risiko, aber CVI können sich auch nach einem Hirntumor, Epilepsie oder einem Unfall entwickeln. Da die Ursachen so vielfältig sind, sehen wir auch viele verschiedene Formen von CVI.

Jedes Kind steht im täglichen Leben vor seinen eigenen Herausforderungen. Bei Kindern mit CVI treten die Schwierigkeiten in der Regel in den höheren visuellen Funktionen auf, die in einer neuropsychologischen und ergotherapeutischen Testungen gemessen werden können. Diese Funktionen beinhalten die Verarbeitung und das Verständnis dessen, was Sie sehen. Für Kinder mit CVI kann es schwierig sein, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, zu beurteilen, wie weit oder wie schnell sich etwas bewegt, zu erkennen, worauf sie schauen, nach einem Objekt zu greifen, ohne es zu verpassen, oder all diese Informationen schnell genug zu verarbeiten.

Wir erkennen es nicht immer, aber es kommt ständig zur eine enorme Menge an visuellen Informationen von unseren Augen zum Gehirn an. Unser Gehirn stellt sicher, dass wir nicht alles auf einmal sehen, sondern nur die Informationen, die uns in diesem Moment wichtig sind.

  • Manchmal brauchen wir einen Überblick z.B. wenn wir einkaufen gehen. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit erweitern, damit wir mehrere Informationen gleichzeitig aufnehmen können. Dies wird als globale visuelle selektive Aufmerksamkeit bezeichnet.

  • Zu anderen Zeiten müssen wir unseren Fokus eingrenzen, um ein kleines Detail zu erkennen und den Rest zu ignorieren z.B. wenn wir in einer Menschenmenge nach einem vertrauten Gesicht suchen. Dies wird als lokale visuelle selektive Aufmerksamkeit bezeichnet.

Kind und Eltern wollen verstehen, wie man mit CVI die Welt anders sieht als andere Kinder. Es ist wichtig, einen Einblick in dieses Verhalten und Weltbild der Kinder zu erhalten, um sinnvolle Ratschläge für das tägliche Leben zu geben. Hier sind qualitative Bewertungen hilfreicher und alltagstauglicher. z. B. Stellen sich Fragen von Lehrenden und Eltern, ob eine Legasthenie oder ADXS besteht. Obwohl es sich um eine CVI handelt. Das ist tatsächlich schwer zu unterscheiden. Auffällig ist, dass Kinder mit mit einer visuellen Schwierigkeit deutlich mehr Probleme im täglichen Funktion aufweisen als Kinder mit neurodiversen Problemen auch wenn Kinder mit ADXS oder LeseRechtschreibschwäche manchmal ähnliche Anzeichen wie bei CVI zeigen.

Für Kinder Lehrende und Eltern ist es so wichtig zu verstehen, wie die Welt bei einer Aufgabe z.B. in der Schule aussieht. Bei Suchaufgaben suchen Kinder mit CVI weniger strukturiert und verpassten Informationen, selbst wenn ihre Augen bereits auf oder in der Nähe des Ziels sind. Dies kann auf ein Defizit an globaler oder lokaler visueller selektiver Aufmerksamkeit zurückzuführen sein, obwohl auch andere visuelle Funktionen eine Rolle spielen können.

Wichtig ist zu realisieren, dass Kinder mit neurodiversen Diagnosen ähnliche Alltagsschwierigkeiten aufweisen können und dass sich CVI zu verschiedenen neurodiversen Krankheitsbildern abgrenzt. Die zugrunde liegenden Ursachen und das Suchverhalten sind unterschiedlich. Es ist in der Diagnostik so wichtig Screening durchzuführen und z.B. einen Eye-Tracker, in die Diagnostik einzubauen um diese Unterschiede sichtbar zu machen.